Über den Wolken: Bergsteigen in Kolumbien
“Wie fit bist du?” fragt mich David in einer Sprachnachricht. Während ich noch darüber nachdenke, dass die letzte Wandertour schon etwas zurückliegt, führt David weiter aus: “die Tour wird nicht ohne”. Obwohl David in seinem Alltag deutlich mehr Ausdauersport als ich integriert, ist er noch nicht trainiert genug, wie er findet. Wie soll ich mich dann bloß in den nächsten Wochen darauf vorbereiten, über einen steilen Hang bis auf 5215 Meter zu klettern?
Hinzu kommt noch, dass ich über keine Erfahrung verfüge. Weder habe ich bisher ein Steigeisen oder einen Klettergurt benutzt, noch einen Eispickel in der Hand gehabt. Ausleihen lässt sich das Equipment immerhin problemlos in Salento. Die kleine Gemeinde liegt in der kolumbianischen Kaffeeregion und ist ein beliebtes touristisches Ausflugsziel.
David kenne ich aus dem Studium in Marburg. Nun lebt er in Bogotá und schreibt einen Bergführer über die Anden in Kolumbien. Er hat schon viele Berge Südamerikas bestiegen und kennt die Anden Kolumbiens wie seine Westentasche. Für sein Buch will er eine Tour zum Gipfel des aktiven Vulkans Nevado del Tolima machen und ich freue mich über die Gelegenheit, endlich mal das Bergsteigen kennen zu lernen.
Vorbei an schmalen Riesen
Mit schwer bepackten Rucksäcken fahren wir früh morgens mit einem “Willy”, so heißen die kleinen bunten Jeep-Taxis, in das Valle de Cocora. Das Tal ist Ausgangspunkt unserer Tour und für seine Quindio-Palmen berühmt.
Wir verabschieden uns für vier Tage von Nicki und stapfen in Gummistiefeln entlang eines Flusses durch den Wald. Dabei queren wir immer wieder abenteuerliche Hängebrücken, bis es schließlich bergauf geht.
Durch das Paramo
Je höher wir wandern, desto lichter wird die Umgebung. Wilde Orchideen schmücken unseren Weg. Gegen späten Nachmittag erreichen wir das Paramo, die Hochlandsteppe Kolumbiens. Hier gibt es keine Bäume mehr. Dafür sehen wir unzählige Frailejones, eine einzigartige Strauchart, welche in den Anden im nördlichen Südamerika wächst.
Am Rand des Weges erblicke ich einen einsamen Gepäckesel, welchem das Gepäck an einer Seite herabgerutscht ist. Hilflos steht er da und kann nicht mehr weiterlaufen. Wir wollen ihm helfen und das Gepäck wieder zurück auf seinen Rücken spannen, doch sind schockiert: Das arme Tier ist so schwer beladen, selbst zu zweit können wir das Gewicht der Taschen nicht zurück auf seinen Rücken stemmen. Also lösen wir alle Riemen und befreien ihn von seiner Last. Als wir gerade fertig sind, kommt der Eseltreiber angelaufen, grüßt kurz und der Esel wird wieder bepackt.
Wir ziehen weiter Richtung Hütte, wo wir unser Zelt aufschlagen können und heißes Wasser bekommen. Zum Sonnenuntergang klärt der wolkenbedeckte Himmel auf und wir können zum ersten Mal die Spitze des Tolimas erblicken.
Der nächste Tag streckt sich wieder durch ein Land voller Frailejones. Die Etappe zum Basislager ist nicht besonders lang, aber erschöpft vom Vortag und mit zunehmender Höhe ist es ein harter Weg.
Um Gewicht zu sparen, wandern wir ohne große Wasservorräte. Schließlich laufen wir stets flussaufwärts. Da es hier einige Kühe gibt, die grasen und uns neugierig zuschauen, wird das Wasser mit Tabletten aufbereitet. Das sollte im Weideland immer gemacht werden.
Ehrenrunde
Irgendwann sind allerdings keine Flüsse mehr da, obwohl auf dem GPS-Gerät noch Gewässer eingetragen sind. Ein uns entgegenkommender Wanderer erklärt, dass es weiter oben kein verfügbares Wasser mehr gibt. Na toll – einer muss zurück und Wasser holen.
Wir knobeln aus, wer der Glückliche ist… Schere schlägt Papier und ich muss umkehren. David drückt mir das GPS-Gerät in die Hand und ich laufe die gerade erkämpften Höhenmeter wieder bergab. Nachdem ich unsere Vorräte aufgefüllt habe, finde ich eine dreiviertelstunde und gefühlt fünf Kilometer später wieder zu David und wir stiefeln weiter Richtung Basecamp.
Nicht allein
Erschöpft und mit schmerzenden Füßen erreichen wir das Lager am späten Nachmittag. Was wir dort vorfinden, hat auch David in Kolumbien noch nicht erlebt: Eine Zeltstadt mit knapp 50 Bergsteigern. Da gerade verlängertes Wochenende ist, sind wir bei Weitem nicht die Einzigen, die morgen auf den Tolima wollen.
Wir suchen uns den letzten flachen Platz im Lager und bauen unser Zelt auf. Schnell kochen wir etwas, denn wir wollen vor dem Sonnenuntergang im Schlafsack liegen.
Nach Chinanudeln mit Tomatensauce wollen wir noch das kolumbianische ‘Agua de Panela’ trinken. Eine Art Tee aus Zuckerrohr. Ich erhitze unser Wasser auf dem Gaskocher. Und kurz bevor das Wasser kocht, stolpert jemand über den Topf und ich sehe einen Liter unseres heiligen, hochgeschleppten Wassers in den Boden sickern. Zum Glück kann David einer Expeditionsgruppe neues Wasser abschwatzen.
Viel und gut schlafen können wir auf der Höhe und in der Kälte allerdings nicht. Wir liegen beide mehr dösend als schlafend im Zelt. Um nicht so zu frieren, lege ich mir die Rettungsdecke aus dem Erste-Hilfe-Set über den Daunenschlafsack.
Früher Aufstieg
Der Wecker ist auf zwei Uhr nachts gestellt, damit wir zum Sonnenaufgang am Gipfel ankommen. Eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln fragt mich David, ob wir nicht doch schon loswollen. Gerne, schlafen geht sowieso nicht. Das Zelt lassen wir im Basecamp stehen. Es ist stockfinster und weit oben am Berghang sehen wir unzählige Stirnlampen der anderen Bergsteiger, die schon vor uns aufgebrochen sind.
Höchst motiviert, völlig übermüdet und mit flottem Tempo überholen wir einige Gruppen. Als es zu einer Kletterpassage kommt, hängen wir uns hinter eine Truppe, denn im Dunkeln lässt sich der Weg alleine nur schwer finden. Immer mehr Schnee liegt unter uns. Kurz vor dem Gletscher ziehen wir Steigeisen an und Seilen uns aneinander.
Die Anstrengung und die Höhe machen mir zu schaffen. Meine Gedanken kreisen nur noch um “linker Fuß, rechter Fuß” und “einatmen, ausatmen”. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und folge Davids Spuren. Um halb 6 wird es heller und es ergibt sich ein spektakuläres Bild, als wir die Wolkendecke durchbrechen. Vom Gipfel des Tolimas sind wir nur noch durch einen Gletscher getrennt.
Um uns herum scheinen die Wolken im sanften Licht. Kalte Tränen laufen mir über die Wangen. Ich muss weinen, doch vor Glück, denn es ist unfassbar schön. Kurz durchatmen, dann geht es weiter. Wir klettern mit dem Eispickel den steilen Hang hinauf. Als wir den Gipfel erreichen, geht die Sonne auf – perfektes Timing. David und ich liegen uns in den Armen, dann werden ein paar Fotos gemacht.
Dieser Tag ist noch lange nicht vorbei
Nach einer halben Stunde steigen wir wieder bergab und spornen auf unserem Rückweg die anderen Kletterer an, die sich noch immer sichtlich angestrengt zum Gipfel mühen.
Doch gemütliches Tempo ist auch bei uns noch lange nicht angesagt. Schließlich wollen wir so weit wie möglich runter, um am letzten Tag nur noch ein kleines Stück vor uns zu haben. Als wir das menschenleere Basislager erreichen, gönnen wir uns noch ein Stündchen Schlaf, bevor wir unser Zelt abbauen.
Nicht viel erholter, aber nun wieder mit schweren Rucksäcken bepackt, geht es weiter hinab. Beide haben wir den Eindruck, als sei der Rückweg viel weiter als der Hinweg, obwohl wir bergab flotter unterwegs sind. Ich muss zunehmend keuchen, jeden Kilometer ein bisschen schlimmer. Nach dem Gipfelanstieg und den Anstrengungen der letzten Tage bin ich komplett zerstört. Mein ganzer Körper tut weh.
Auf der Hütte, wo wir zwei Tage zuvor das Zelt aufgeschlagen haben, machen wir kurz Rast. Der Hüttenwirt versorgt uns mit Agua Panela und selbstgemachtem Käse, bevor wir wieder die Rucksäcke aufschnallen.
Obwohl wir beide keine Lust mehr haben, beißen wir uns durch. Kurz vor dem Sonnenuntergang finden wir einen perfekten Campingplatz direkt am Weg. Es ist die größte Wohltat den Rucksack abzuschmeißen und sich von den Stiefeln zu befreien.
Geschafft!
Die Nacht könnte ruhiger nicht sein und der Abstieg am nächsten Tag fällt mir wieder leicht. Am Wegesrand entdecken wir immer wieder schöne Vögel. Neben dutzenden Kolibris erblicken wir auch einen kleinen Tucan.
Überglücklich erreichen wir Mittags die Wachspalmen im Cocora Tal. Wir setzen uns in den nächsten Willy und ich fange an, die unvergesslichen Eindrücke der letzten Tage zu verarbeiten.
Vielen Dank David, ohne dich hätte ich es nie auf den Gipfel geschafft! Ich wünsche dir alles Gute für dein Buch und bin gespannt, wie es sich entwickelt.
Yeah. The Tucan is done. 😉
Ich hab großen Respekt vor all den Leuten die mit dem Zelt einen Berg hoch laufen.
Einige Tucane haben wir mittlerweile gesehen. Ein Tucan mit gelbem Schnabel steht immer noch auf der Bucketlist 🙂
Kleiner Nachtrag aus Guatemala: Jetzt haben wir auch einen Tucan mit gelbem Schnabel gesehen. Großartige Vögel!
Dafür das du studierter Sportlehrer bist jammerst du aber ganz schön ????. Ich wäre warscheinlich schon bei 1000 m liegengeblieben und hätte dort abgewartet bis es wieder zurück geht ????. Respekt
Ich lese Deine/Eure Geschichten immer wieder mit Genuss, während ich beim spanischen workaway mit Kaffee auf der Terrasse sitze. ????????